Dilettantisches Herumbasteln an der Schrift

Renate Tost, Mitbegründerin der Schulausgangsschrift, ist über die Grundschrift entsetzt

Deutsche Sprachwelt, 13 (2012), 3, S. 3

Die Graphikerin Renate Tost erarbeitete in den 1960er Jahren zusammen mit der Diplompädagogin Elisabeth Kaestner die Grundlagen für die „Schulausgangsschrift” (SAS). Diese Schreibschrift wurde 1968 in den allgemeinbildenden polytechnischen Oberschulen der DDR eingeführt.

Die SAS wird heute in acht Bundesländern unterrichtet. Der Grundschulverband plant jedoch, die Schreibschrift durch eine Druckschrift zu ersetzen, „Grundschrift” genannt. Mit Renate Tost sprach Lienhard Hinz.

Was halten Sie von der sogenannten Grundschrift?

Die Grundschrift ist ein untauglicher Versuch, die Probleme zu lösen, die sich in den zurückliegenden Jahrzehnten auf dem Gebiet des herkömmlichen Schreibunterrichts angestaut haben.

Die Argumentation der Grundschriftanhänger macht auf mich den Eindruck von populistischem Aktionismus, der einer Flucht aus dem Felde gleicht.

Statt sich die Spezifik der Schreibschrift für die Fachdidaktik zu erschließen und geeignete Schlußfolgerungen für effektive Handlungsbedingungen im Unterricht abzuleiten, wird dilettantisch an der Schrift herumgebastelt.

Darüber hinaus scheinen sich die Autoren mit der Fachliteratur unter anderem zu psychologischen Problemen des Fertigkeitserwerbs nur ungenügend auseinandergesetzt zu haben. Wie anders sonst soll man sich die illusionären Erwartungen erklären, daß nun mit der Grundschrift alles leichter würde?

Es fällt schwer zu glauben, daß hier Profis zugange sein sollen.

Worin sehen Sie die illusionären Erwartungen?

Unter dem Vorwand, das Kind dort abzuholen, wo es sich beim Eintritt in die Schule befindet, wird als Orientierung ein schäbiges Alphabet angeboten. Damit läßt man es dann schon bewenden.

Durch eine solche Vorgehensweise werden die Schüler auf ihrem Anfangsniveau festgenagelt. Kein Ansatz in Richtung „Zone der nächsten Entwicklung” (Lew Wygotsky), keine Angebote für graphomotorische Perspektiven, die einem ästhetischen Mindestanspruch gerecht werden.

Wer soll zum Beispiel der deformierten Schrift zur vielversprochenen Formklarheit verhelfen: der Lehrer, der Schüler? Wo soll der Schwung herkommen, wenn die Buchstaben im Stop-and-Go-Verfahren nebeneinandergestellt oder zusammengelötet werden?

Eine effektive Nutzung des alphabetischen Schriftsystems hat zur Voraussetzung, daß nicht nur einzelne Laute kodiert werden.

Damit das Dechiffrieren der Schrift über ein Buchstabieren hinauskommt, ist unter anderem die Berücksichtigung wahrnehmungspsychologischer Gesetzmäßigkeiten und Sehgewohnheiten notwendig. Deshalb ist das Ausformen der unterscheidenden Merkmale der Buchstaben untrennbar mit einem visuellen Ordnen verbunden.

Um aus den vielen Figuren überschaubare Gestalten (Wortbilder, Zeilen und Blöcke) zu fertigen, reicht es nicht aus, die unterscheidenden Merkmale der einzelnen Buchstaben irgendwie auszuformen und die Lautzeichen orthographischen Regeln folgend additiv nebeneinander zu stellen. Das Ganze ist nicht die Summe der Teile.

Es kommt darauf an, die Figuren der Buchstaben gestalterisch aufeinander zu beziehen und sie einem einheitlichen Stilprinzip/Formkanon zu unterwerfen. Bei der Entwicklung eines Schriftfonts macht das der ausgebildete Schriftdesigner.

Beim Schreibenlernen soll die Lösung dieser überaus komplizierten Aufgabe dann an die Schüler delegiert werden. Eine durchgestaltete Vorlage für Schüler wird im Verständnis der Verfechter der Grundschrift als Hindernis für die persönliche Entfaltung abgelehnt.

Doch nicht nur hier äußert sich falsch verstandene Kreativität. Hinzu kommt, daß korrekte Verbindungen zwischen den Buchstaben nicht mehr als VOR-Bild angeboten werden, sondern der Beliebigkeit überlassen bleiben.

Die Erfahrungen von Generationen, die sich im flüssigen Schreiben und im Buchstabenverbinden auskannten, werden unterschlagen: Der Schüler soll statt dessen nach eigenem Gutdünken Verbindungen selbst erfinden.

Welcher Zusammenhang besteht zwischen Buchstabenverbinden und flüssigem Schreiben?

Schreibschriften werden auch als kurrente – hergeleitet von currere = laufen – bezeichnet. Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß beim flüssigen Schreiben die Bewegungsimpulse, analog zum Laufen – die einzelnen Schritte, zu einer ganzheitlichen Bewegungsgestalt verschmelzen.

Die Schreibschrift lebt von einer mehr oder weniger rhythmischen Bewegungsausführung. Der Fluß der Bewegung ist durch die Gliederung von Anspannung und Entspannung, einem Auf und Ab der Linienführung in der Zeile gekennzeichnet.

Schulanfänger bringen mit der Kritzelbewegung bereits wichtige Voraussetzungen für das Verständnis eines Bewegungszusammenhanges mit. Da ist zu fragen, warum das Kind nicht hier „abgeholt” wird.

Ein flüssiger Bewegungsstil resultiert nicht automatisch aus dem additiven Aneinanderreihen staccatoartig abgebremster Einzelbewegungen. Zügiges Laufen ist etwas anderes als schnelles Hüpfen.

Verbindungen müssen von Anfang an sorgfältig eingeübt, automatisiert und im Bewegungsgedächtnis gespeichert werden. Nur so können diese automatisch abgerufen werden, wenn es darum geht, die Aufmerksamkeit auf Orthographie und Textproduktion zu lenken.

Gelegentlich nutzt der gewandte Schreiber sogar das graphomotorische Gedächtnis, um sich bei Unsicherheit in der Rechtschreibung Klarheit zu verschaffen.

Daß sich der gewandte Schreiber auf der Grundlage einer soliden Ausbildung im konkreten Fall später anders verhält, als es ihm eine durchgestaltete Schreibvorlage vorgibt, steht auf einem ganz anderen Blatt und ist übrigens eine völlig normale Entwicklung.

Der geübte Klavierspieler berücksichtigt mit Sicherheit auch nicht mehr genau den Fingersatz, der ihm in den Noten für Anfänger vorgeschrieben wurde. Hier wird deutlich, daß bei den Grundschriftaktivisten hinsichtlich der Funktion von Vorlagen ebenfalls eine auffallende Unwissenheit oder gar Ignoranz vorliegen.

In diesem Kontext ließen sich noch viele Ungereimtheiten ausmachen, die diese Versuche mit der Grundschrift charakterisieren.

Wie ist zu erklären, daß ein gestalterischer Dilettantismus die Erfahrungen von Generationen unterschlägt?

Beim Erwerb der Schriftsprache haben Linguisten und Deutschdidaktiker in zunehmendem Maße die Ausbildung des manuellen Schreibens in der Grundschule bestimmt. Der Trend zum  creative writing seit den siebziger Jahren mag dabei eine besondere Rolle gespielt haben.

Unter diesen und anderen Voraussetzungen wurde von der Deutschdidaktik in der Grundschule zunehmend ausgeblendet, daß die Schrift auch noch einen wichtigen anderen Bezug hat als den der Bindung an die Sprache. Die gestalterisch-motorische Auseinandersetzung mit der Schriftform besitzt ihre eigene Spezifik.

Denn Schrift mit der Hand schreiben ist auch eine angewandte Form des graphischen Gestaltens. Mit der Qualität der Form werden wesentliche Voraussetzungen für die visuelle Informationsaufnahme und -verarbeitung geschaffen.

Das werden nicht nur Pädagogen, die handschriftlich geschriebene Klassenarbeiten zu korrigieren haben, ohne weiteres bestätigen können. Für die Ausbildung lesbarer Schriftzüge ist seitens der Lehrer, die dies unterrichten, Fachkompetenz gefragt.

Genauso wie beim Vermitteln und üben anderer Aspekte der Schriftsprache muß er grundlegende gestalterische Bedingungen für die Lesbarkeit einer Schrift kennen. Das kann nicht einfach an den Kunsterzieher delegiert werden. Diese gegenstandsspezifische Kompetenz – auch in Form von Erfahrungswissen – ist im Verlaufe vieler Jahrzehnte leider verlorengegangen, eventuell sogar unwiederbringlich.

Die Lehreraus- und -weiterbildung auf diesem Gebiet findet, wenn überhaupt, nur noch sehr unzureichend statt. Nicht nur das hat Fritz Bärmann bereits 1970 festgestellt und kritisiert in: „Schreiberziehung in der Lehrerbildung: Zusammenfassung einer Untersuchung”, ein Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Schreiberziehung.

Meines Wissens ist er einer der letzten großen einflußreichen Pädagogen gewesen, der sich nachdrücklich auch für die Berücksichtigung der ästhetischen Seite der Schrift eingesetzt hat. Gegenwärtig suchen viele Lehrer nach geeigneten Schriftfonts und üben – ob mit oder ohne Kurs – mit diesen umzugehen, um nicht selbst schreiben zu müssen.

Eine Ausbildung, die die Grundschullehrer verpflichtet, Schrift mit der Hand schreiben zu lernen, dürfte gegenwärtig die Ausnahme sein.

Über solche rein praktischen Fähigkeiten und Fertigkeiten hinaus sollten die Lehrer über grundlegendes Wissen verfügen: hinsichtlich des Formenaufbaus einer Schreibschrift – einschließlich der Bedingungen für die Lesbarkeit – sowie über lernpsychologische Kenntnisse über den Aneignungsprozeß motorischer Fertigkeiten.

Nur auf dieser Grundlage lassen sich wohlüberlegt und systematisch die einzelnen Schritte zur Aneignung führen.

Welchen Ausweg sehen Sie aus diesem Dilemma?

Das Schreibenlernen ist ein außerordentlich komplexer Prozeß.

Dementsprechend vielfältig sind die Disziplinen, deren Vertreter, „konzertiert” zusammenarbeiten müßten, um im Rahmen einer entsprechenden Grundlagenforschung – oder wie immer eine solche Forschung zu benennen wäre – eine Antwort auf die neuen Herausforderungen unserer Zeit zu finden.

In diese Zusammenarbeit sollten von Anfang an Schrift- und Kommunikationsdesigner (möglichst mit pädagogischer Erfahrung), bereits in die erste Phase einer entsprechenden Forschungskonzeption einbezogen werden.

Letztendlich ist auch zu berücksichtigen, daß sich eine richtige Fachwissenschaft für dieses Gebiet noch gar nicht herausgebildet hat. So fehlt es allein schon an einem geeigneten Begriffsinventar, mit dem die einzelnen Sachverhalte beim Schreibenlernen mit der Hand bezeichnet und bewußt gemacht werden können.

Es fehlt nicht nur eine Übersicht fachwissenschaftlicher Grundlagen auf dem Gebiet der Schriftgestaltung, sondern auch eine Zusammenfassung psychologisch/lerntheoretischer Erkenntnisse des Fertigkeitserwerbs, die für das Schreibenlernen auf die Bedürfnisse der Schule zugeschnitten sind.

Schließlich ist auch die verfahrene Situation in den erziehungswissenschaftlichen Konzeptionen hinsichtlich der Proportionalität von Führung und Selbsttätigkeit sowie von frontalem und offenem Unterricht ein wesentlicher Grund für das Scheitern.

Auf alle Fälle bedürfte es, wie eingangs angesprochen, einer breit angelegten Forschung, die auch ökonomisch unabhängig ist und den Willen der Beteiligten zu einer ehrlichen, unvoreingenommenen Zusammenarbeit voraussetzt.

Zurück zur Artikelübersicht