Vertrauen in die Wirksamkeit von Sprache

Sprechen – Zeitschrift für Sprechwissenschaft. Heft 50/2010, S. 31–32

Sprache

Der Baum
größer als die Nacht
mit dem Atem der Talseen
mit dem Geflüster über
der Stille

Die Steine
unter dem Fuß
die leuchtenden Adern
lange im Staub
für ewig

Sprache
abgehetzt
mit dem müden Mund
auf dem endlosen Weg
zum Hause des Nachbarn

Johannes Bobrowski schrieb das Gedicht „Sprache” am 26. Februar 1963. Es gehört zur Lyriksammlung „Wetterzeichen”, die zuerst im Berliner Union-Verlag erschien.

In einem Brief an seinen Freund Peter Jokostra hatte er schon Jahre vorher bekannt: „Ich habe ein ungebrochenes Vertrauen in die Wirksamkeit des Gedichts - vielleicht nicht des Gedichts, sondern des Verses, der wahrscheinlich wieder mehr Zauberspruch, Beschwörungsformel wird werden müssen.”

„Sprache” als Überschrift und als dritter Strophenanfang rahmt die beiden ersten Strophen. Mit einem Auftakt beginnend und durch aneinandergrenzende Amphibrachen verbunden, weisen diese „inneren” Strophen inhaltlich eine Gemeinsamkeit auf.

Es werden Naturbilder beschrieben. „Der Baum” als Sinnbild lebendiger Natur ist erhaben und wirkt durch „Atem” und „Geflüster” menschlich. „Die Steine” symbolisieren erstarrte Natur, die mit den „leuchtenden Adern” auch menschliche Züge erhält. Im Vergleich zur räumlichen Dimension des Baumes („größer als die Nacht”) werden die Steine zeitlich dimensioniert („lange”; „ewig”).

Die Sprache der lebendigen Natur in der ersten Strophe hat akustische Zeichen („Atem”; „Geflüster”) und die der erstarrten Natur in der zweiten Strophe optische („die leuchtenden Adern”).

Den ruhigen ursprünglichen Naturbildern in den ersten beiden Strophen folgt in der dritten Strophe eine menschliche Sprache, die wirkungslos ist, weil sie mit „müdem Mund” gesprochen wird und auf einem „endlosen Weg” den Gesprächspartner nie erreichen kann.

Ist das vielleicht mündliche Sprache im ruhelosen Medienzeitalter? Oder ist es Bobrowski selbst, der nicht gehört wird? Spät wurde der von Vereinsamung bedrohte Dichter von Lesern und Verlegern wahrgenommen. Eine Vielzahl seiner Gedichte, so auch die Sammlung „Wetterzeichen”, erschien erst nach seinem Tod am 2. September 1965.

Von der Einsamkeit des Dichters und seines Gedichts spricht Paul Celan in seiner Büchner-Preis-Rede 1960: „Das Gedicht ist einsam. Es ist einsam und unterwegs. Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben.”

Die Unendlichkeit des Weges der Sprache des Dichters zum Leser, Hörer erklärt Celan mit stilistischen Eigenheiten: „Das Gedicht heute zeigt, und das hat … mittelbar mit den … Schwierigkeiten der Wortwahl, dem rapiden Gefälle der Syntax oder dem wackeren Sinn für die Ellipse zu tun, das Gedicht zeigt, … eine starke Neigung zum Verstummen.”

Bobrowskis Verse sind offene elliptische Fügungen, frei nach Taktzahl und Füllung. Sie haben keine Verben und sind damit ohne Tempus. Genau in der Mitte wird der dunkle Grundton des Gedichts aufgehellt. Wie ein Lichtschimmer dringen „die leuchtenden Adern” aus den „Natur-Strophen”.

Durch die Berührung mit den Zeichen der Natur kann menschliche Sprache Substanz, Gestalt und Wirksamkeit gewinnen.

Literatur
  • Bobrowski, Johannes: Wetterzeichen. Gedichte. Berlin: Union-Verlag, 1966, S. 37
  • Celan, Paul: Der Meridian. Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises, Darmstadt am 22. Oktober 1960. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1961, S. 17
  • Jokostra, Peter: bobrowski & andere. die chronik des peter jokostra. München-Wien: Verlag Langen-Müller, 1967, S. 201

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