Sprechen als sinnliche Erfahrung von Sprache

Anliegen und Arbeit eines Sprecherziehers

Deutsche Sprachwelt, 12 (2011), 1, S. 3

Seien Sie zu eigenen sinnlichen Erfahrungen beim Sprechen eingeladen. Haben Sie es selbst schon einmal erlebt, daß Ihnen literarische Sprache so gefällt, daß Sie beim Lesen laut sprechen? Reime, Verse und Zeilen sind dann so ansprechend, daß wir sie vortragen wollen.

Friedrich Schiller hat diese ansprechende Literatur 1795 in seinem Gedicht „Der Spaziergang” beschrieben: „Körper und Stimme leiht die Schrift dem stummen Gedanken,
Durch der Jahrhunderte Strom trägt ihn das redende Blatt.”

Das Dichtungssprechen ist in den letzten beiden Jahren ein Arbeitsgebiet von mir geworden. Die Neue Fruchtbringende Gesellschaft zu Köthen (Anhalt) veranstaltet seit 2007 jedes Jahr einen Schülerschreibwettbewerb unter dem Titel „Schöne deutsche Sprache”.

Schüler aus dem ganzen Land reichen ihre Gedichte und Geschichten ein. Die jungen Preisträger dieses Wettbewerbs sprechen ihre Dichtungen im Festsaal des Köthener Schlosses am Tag der deutschen Sprache im September und ich bereite sie am Vormittag darauf vor.

Die sprecherische Gestaltung ist so schöpferisch wie das Schreiben. Erich Drach, der Begründer der Sprecherziehung, schrieb in den 1920er Jahren, daß es dabei darauf ankommt, das in der Dichtung Empfundene zu empfinden und in eine „neue Redelage” zu stellen.

In seinem Buch „Die redenden Künste” von 1926 zitiert er den Philosophen Richard Müller-Freienfels und bezeichnet das Dichtungssprechen als „Resubjektivieren objektivierter Subjektzustände”.

Mit anderen Worten: Wenn wir Dichtungen sprechen, gestalten wir Sprache auf unsere eigene Weise und sind nur dem Text und uns selbst verantwortlich. Es ist dabei unerheblich, ob wir ein eigenes Werk oder das eines anderen Verfassers sprechen.

Die Sprecherziehung hat drei Ziele: erstens die soeben beschriebene sprecherische Gestaltung von Dichtung, zweitens die wirkungsvolle Rede im Vortrag oder im Gespräch und drittens die Schulung der Sprechstimme und Artikulation, auch Stimm- und Sprechbildung genannt.

Diese drei Ziele wurden schon in der Rhetorik in der Antike verfolgt. Bei einem der bedeutendsten Autoren, Quintilian (35–96 n. Chr.), heißt es: „Nihil potest intrare in affectum, quod in aure, velut quodam vestibulo, statim offendit.”  Also: Nichts kann den Weg ins Gemüt finden, das schon im Ohr, also gewissermaßen im Vorhof, Anstoß erregt.

Die Bedeutung von Sprache und Stimme wurde schon früh erkannt. Die Stimm- und Sprechbildung ist die Grundlage der sprecherzieherischen Arbeit. Mit der Stimme beschäftigen wir uns, wie überhaupt mit unserem Körper, meist erst bei Schwierigkeiten oder Erkrankungen.

Die Stimm- und Sprachheilkunde, die „Phoniatrie”, gründete sich im Jahr 1905. Damals erwarb Hermann Gutzmann sen. an der Medizinischen Fakultät der Berliner Universität die Lehrbefähigung und begann mit seinen Vorlesungen über Sprachstörungen.

Das beeindruckende Grab der Medizinerfamilie Gutzmann habe ich unlängst bei einem Wochenendausflug in der Mark Brandenburg in Teupitz am gleichnamigen See entdeckt. Sein Sohn Hermann Gutzmann jun. gründete 1962 in Berlin-Dahlem die erste Logopädenlehranstalt.

Der Heilberuf des Logopäden entstand nach dem Krieg, den pädagogischen Beruf Sprecherzieher gab es schon davor. Die Stimm- und Sprachheilkunde entwickelte sich zu Beginn des vorigen Jahrhunderts von zwei Zentren aus: Berlin und Wien. In Wien wirkte der Phoniater Emil Fröschels.

Von Fröschels stammt die Kaumethode zur Ausbildung der Sprechstimme. Sie beruht auf der Doppelfunktion von Organen: für die Nahrungsaufnahme und das Sprechen. Gut schmeckendes Essen weitet den Rachen und beeinflußt den Stimmklang.

Die Stimme klingt weicher und voller. Der harte, spröde und gedrückte Stimmklang der Angstgefühle ist auf eine Einengung des Rachens zurückzuführen. Wenn wir beim Essen etwas brummen – „Mhm, mhm …” – wird ein Stimmton unterhalb der mittleren Sprechstimmlage erreicht.

Zunächst wird mit Eßbarem im Mund geübt und dann mit der Vorstellung einer schmeckenden Speise. Danach folgen Kausilben und Wörter, beispielsweise „Mjam, mjam, mjam – Name, mjem, mjem, mjem – nehmen, mjim, mjim, mjim – Miene, mnjom, mjom, mjom – Note”.

Wenn wir uns jetzt gedanklich auf die Ebene unserer ein bis zwei Zentimeter langen Stimmlippen im Kehlkopf begeben, haben wir in dieser tiefen Stimmlage eine sogenannte Vollschwingung. Die Stimmlippen schwingen mit großer Schwingungsweite. Wir befinden uns von der Resonanz her betrachtet im Brustregister.

Wenn wir die Stimme heben, weil wir uns über etwas aufregen, gegen Umgebungslärm ansprechen oder vielleicht besonders freundlich wirken wollen, werden die Stimmlippen angespannt und dadurch etwas verlängert. Es schwingt nur der äußere Rand der Stimmlippen. Die Muskulatur wird stärker beansprucht und kann schneller ermüden.

Jede Schwingung, auch die Stimmlippenschwingung, braucht für die Resonanz den Körper. Wenn wir eine Stimmgabel anschlagen, hören wir kaum etwas. Erst wenn wir sie auf den Tisch stellen oder an die Stirn halten, ist der Ton wahrnehmbar.

Wir können den menschlichen Körper mit einem Saiteninstrument vergleichen. Schlägt man eine Gitarrensaite an, schwingt sowohl die Luft im Korpus, als auch der Korpus selbst. Gitarren brauchen gut schwingendes Holz und wir brauchen eine gut schwingende Muskulatur von den Füßen bis zur Schädeldecke.

Berufssprecher im Fernsehen nutzen die Körperresonanz aus, indem sie im Stehen sprechen. Jan Hofer, seit 2004 Hauptsprecher der Tagesschau, hat am 20. Juni 2005 das Stehen während der Sendung eingeführt. Zur Begründung sagte er der Berliner Zeitung: „Beim Stehen hat man eine bessere Körperhaltung. Man kann besser atmen und ist dynamischer.”

In vielen Sprechberufen in Wirtschaft und Verwaltung bemüht man sich auch, Stehplätze einzuführen. Doch läßt sich die sitzende Tätigkeit in manchen Büros nicht vermeiden. Hier kommt es darauf an, beim Sprechen im Sitzen eine aufrecht-elastische Haltung einzunehmen, die Atmen und Sprechen fördert.

Auch im Sitzen können wir Körpergewicht über die Füße an die Erde abgeben. Die Sicherheit, die uns der Boden gibt, überträgt sich auf die Stimme und damit auf den Hörer.

Wenn wir beide Füße ungefähr schulterbreit auseinander aufstellen, können wir uns vier rechte Winkel denken: den ersten zwischen Fuß und Unterschenkel, den zweiten zwischen Unter- und Oberschenkel, den dritten zwischen Oberschenkel und Rumpf und den vierten zwischen Hals und Unterkiefer.

Wie sich diese aufrechte Körperhaltung auf die Atmung auswirkt, können wir spüren, wenn wir eine Hand auf den Bauch legen und mit locker aufeinanderliegenden Lippen langsam mit Lippenbremse ausatmen.

Dann versuchen wir die Reserveluft, die noch im Körper ist, durch die Lippen hinauszubewegen. Wir warten bis Lufthunger entsteht und lassen die frische Luft durch die Nase in den Körper strömen. Erfolgreich ist die Übung, wenn wir merken, daß sich die Hand auf der Bauchdecke nach vorn, außen bewegt.

Wir aktivieren mit dieser Übung unseren Hauptatemmuskel, das Zwerchfell. Das bewegt sich beim Einatmen nach unten und verdrängt dabei innere Organe, wodurch sich die Bauchdecke nach vorn ausdehnt.

Sprechen ist tönend gemachtes Ausatmen. Während des Sprechens atmen wir kaum durch die Nase. Wir brauchen mehr Luft und bekommen sie schneller durch den Mund. Wenn wir stehen oder aufrecht sitzen, hat das Zwerchfell genügend Bewegungsraum und kann die Atemluft leicht und geräuschlos ergänzen.

Dieses Sprechen „aus dem Bauch heraus”, vom Zwerchfell her, können wir mit einem energischen „Ja!” üben. Achten Sie auf eine gute Mundöffnung. Mit einer Hand bemerken wir dabei die Anspannung der Bauchmuskulatur beim Sprechen und die Lösung dieser Spannung am Ende des Ausspruchs.

Mit der anderen Hand können wir auch die leichte Kehlkopfbewegung am Hals spüren. Bei der Stimmgebung wird im Kehlkopf Spannung aufgebaut und in der Sprechpause gelöst. Das geschieht auch, wenn Sie „p”, „t” und „k” am Wortende deutlich sprechen, beispielsweise „Licht”, „Luft”.

Die Aussprache ist ein Reiz, auf den der Körper antwortet. Die deutliche Artikulation spart Stimmkraft. Oft verbirgt sich hinter der Aufforderung. „Reden Sie mal lauter!” die Botschaft „Ich habe Sie nicht verstanden, weil Sie undeutlich sprechen.”

Wichtig für eine gute Aussprache ist, daß wir den Mund möglichst leicht öffnen können. Im Kieferbereich kommt es schnell zu Verspannungen. Mit einer Massage der Kaumuskulatur mit den Fingerkuppen und der Schläfenmuskulatur mit den Handballen bei leicht geöffnetem Mund können wir diese Verspannungen lösen und danach mit auf den Gesichtshälften aufgelegten Händen den Mund weit öffnen.

Die vier unterschiedlichen Kieferwinkel und Hebungsstufen der Zunge lassen sich gut mit den Vorderzungenvokalen „a”, „ä”, „e” und „i” üben. Vor dem Spiegel sollte auch beim engen „i” die Zunge zwischen den Zähnen zu sehen sein.

Beim Üben übertreiben wir bei der Artikulation, um in der Umgangssprache deutlicher zu werden. Stimmhafte Konsonanten bringen die Stimme nach vorn. Das spüren wir mit den Wörtern „Muntermacher”, „Neffen und Nichten”, „Wind und Wellen”, „Land und Leute”, „Sang und Klang”, „Sonnenseite”.

Wir haben uns zuerst mit der Stimmgebung im Kehlkopf beschäftigt und danach gespürt, wie sich Körperhaltung, Atmung und Artikulation auf die Stimme auswirken. Ich empfehle, immer wieder die eigene Stimme aufzunehmen. Wir lassen uns photographieren und staunen, wie wir aussehen.

Noch erstaunlicher und gewöhnungsbedürftiger ist die aufgenommene Stimme, weil wir uns selbst verzerrt hören. Ich bitte meine Kursteilnehmer, einen kurzen Redebeitrag aufzusprechen, beispielsweise: „Welcher Stimme hören Sie gern zu und warum?” Bei der Auswertung der Aufnahmen erläutere ich Stimmeigenschaften.

Ziele meiner Tagesseminare und Schulungen zur Stimm- und Sprechbildung sind die aufrecht-elastische Körperhaltung, natürliche Zwerchfellatmung, mittlere Sprechstimmlage, deutliche Lautbildung und der authentische Sprechausdruck.

Die Sprechausdrucksmittel sind:

  • Sprechtempo (Tempowechsel)
  • Hervorhebungen (Betonungen)
  • Sprechmelodie (Tonhöhenbewegung)
  • Pausen
  • Artikulation
  • Stimmklang
  • Präsenz (Mikrophonabstand, Geistesgegenwart)

Den gekonnten Einsatz der Sprechausdrucksmittel hören wir in Aufnahmen mit Gedichten.

Ich wünsche, daß Sie Ihre Stimme liebgewinnen und am Sprechen Freude haben. In Goethes Faust heißt es: „Allein der Vortrag macht des Redners Glück.”

Zurück zur Artikelübersicht